Immer wieder: sterben. Wir auch

Zum Tode des »Shoah«-Regisseurs Claude Lanzmann

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Damit Wahrheit ans Licht käme, so heißt es, brauche sie eine Ewigkeit. Nein, dafür ist die Ewigkeit zu kurz. Wahrheit kommt an kein Ziel, sie kennt keine End-Gültigkeit. Wahrheit ist nicht, sie entsteht. Sie ist ein Tätigkeitswort. Der Film »Shoah« von Claude Lanzmann ist einer der erregendsten Versuche, 20. Jahrhundert und Wahrheit in ein derart offenbarendes Verhältnis zu setzen.

1985 erlebt der Film seine Uraufführung bei der Berlinale. Hunderte Stunden Material, neun Stunden Laufzeit, zwölf Jahre Arbeit. Um »das große Chaos der Trauer« zu erfassen, so der Regisseur. Überlebende des Holocaust vor der Kamera, schonungsloses Erzählen in nahezu leeren Landschaften. Täter und Opfer. Leid und Lüge. Annäherung mit falschen Namen, Filmen mit versteckten Kameras. Aussprechen, worüber man nicht reden kann. Brutal akkurate, wertfreie Beschreibungen. Der Film zeigt keine Spuren. Er bemüht kein Archiv. Er verweigert sich dem Kommentar. Er bleibt Peinigung.

Da ist ein geradezu brennender Ehrgeiz des Regisseurs, das Unbegreifliche der Judenvernichtung »als Grundgewissheit zu bewahren, ja zu retten«. Das Dämonische jenes Zivilisationsbruchs, der in der Mitte der europäischen Intelligenzen geschah - für Lanzmann ist es nicht in Bilder zu fassen. Diese Vernichtung bleibt »das Undenkbare, also auch Unzeigbare« - weswegen der Regisseur Werke wie Spielbergs »Schindlers Liste« strikt ablehnte. Keine politökonomische Theorie hilft, keine strukturelle Analyse beruhigt, keine historische Erkenntnis hellt wirklich auf: Hitler entkam der Welt und sämtlichen Vernunftfallen, um ihn dingfest zu machen, also schlüssig zu erklären. Die Ermordung der europäischen Juden lässt sich aus einem durchaus erforschten System von politischen, ökonomischen Voraussetzungen nicht absolut logisch ableiten.

»Shoah«. Ein hebräisches Bibelwort: Vernichtung. Naturgewalt? Menschengezücht? Das Wort besteht auf seinem nebligen Charakter. Mit Lanzmanns Film hat sich der Begriff als Kennung für den industriellen Judenmord durchgesetzt. Der Regisseur im Vorspann: »Die Handlung beginnt heute.« Ja, die Gespräche mit den Überlebenden gewissermaßen als Herzeinpflanzung für jeden Zuschauer in weiterlaufender Zeit - die plötzlich stehen bleibt. Als begänne immer aufs Neue und nur jetzt, was nie Vergangenheit werden darf: dies Nichtbegreifen, dies Überfordertsein, dies nicht zu bannende Erschrecken.

Lanzmann will nicht bewältigen, nicht aufklären; er will den Kampf führen gegen den Tod der Toten. Suspekt bleibt ihm der Blick jener Mahner und Gedenkfleißigen, die ihre Tränen für Nachwelten gewissermaßen in Bronzen gießen. Das höchste Ziel von Lanzmann: eine Austreibung des Weinens. Denn wer weint, genießt auch, Tränen sind die traurige Vorfreude auf die Katharsis. Um die geht es hier nicht.

»Ich habe einen Film gemacht, der von nichts ausgeht.« Indem über sie geredet wird, lässt Lanzmann die Toten wiederauferstehen - »um sie mit der Präzision der Details ein zweites Mal zu töten, damit sie nicht allein sterben, damit wir mit ihnen sterben, immer wieder.« Fleischtilgung, Fleischwerdung. Hätte der Regisseur bei den Recherchen einen Film gefunden, der den Tod Tausender von Juden in der Gaskammer dokumentiert hätte, etwa heimliche SS-Aufnahmen, wäre ihm klar gewesen: »Ich hätte ihn nicht nur nicht gezeigt, ich hätte ihn zerstört.«

Lanzmann, der 1925 in einer jüdischen Familie geboren wird, ist selbst unter dem Schatten der Deportation aufgewachsen. Er wird früh Kommunist, schließt sich als Schüler dem Widerstand an. Der Vater rettet ihm in einem Schusswechsel mit der französischen faschistischen Miliz das Leben. Als er neun ist, verlässt die Mutter die Familie. Lanzmann nennt sie später eine »Pionierin der Freiheit«, ungeeignet für die Ehe. Für ihre Freiheit, und sei es in Armut, stapelt sie Sardinenbüchsen.

Seine Autobiografie betitelt er »Der patagonische Hase«, das steht in beabsichtigter Nähe zum Angsthasen - was nie in Einklang zu bringen war mit der wuchtigen Statur, der lebemännischen Aura des Autors, seinem französischen Eitelkeitscharme. Aber: die Angst als fortdauernder Impulsgeber. Für den Taucher und Piloten, den Reiter und Kletterer. Die Überwindung als großartigstes Abenteuer. Der Intellektuelle als Sinnes- und Sinnenkerl. Vitalität, erotische Begierde. Keine Existenz ohne Frau, jede Frau purer Existenzialismus.

Mit 23 lehrt der Philosoph an der neuen Freien Universität Westberlins. Wird Herausgeber der berühmten Zeitschrift »Temps Modernes«, und ebenso berühmt: jene Zweisamkeit zu dritt, mit Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir. »Simone, die siebzehn Jahre älter war als ich, hat mir die Welt beigebracht, auf siebenundzwanzig Quadratmetern.« Götter und Tiere leben sich aus, aber der Mensch müsse sich zügeln? Lanzmann sagt Göttern gern den Kampf an. Göttern und geltender politischer Moralität. So entstehen Filme mit provokanter Wirkung - der Essayist, der Schriftsteller in seinem Element: Identität erweist sich im Konflikt.

Sein Debütfilm heißt »Warum Israel« (1973). Der jüdische Intellektuelle Lanzmann, der kein einziges Wort Hebräisch sprach und weder in Religion noch Tradition bewandert war, hatte Anfang der fünfziger Jahre die jüdische Positivität entdeckt: ein Volk in wachsender Normalität. Israel als Gesellschaft der Gewöhnlichen, der Angreifbaren, der zerrissenen Klassen. Auf einem Schiff voller Auswanderer putzt eine israelische Frau seine Kabine. Er erträgt das nicht - die Kabine bleibt ungeputzt. Soziale Normalität ist für ihm zunächst Folter, wird aber - mehr und mehr - zur Feier. Später, im Film, werden US-Touristen gezeigt, die Fischbüchsen made in Israel in die Kamera halten. Alltagsbegeisterung. So platzt Marmor von jenem jüdischen Opfermythos, der Leben abwürgt. Lanzmann geht im Film, in vielen Interviews, einer Genugtuung nach: Er fühlt sich wohl unter Juden, die weltpolitisch zu den gleichen Mitteln greifen wie andere. Er polarisiert. Denn er greift scharf eine linke, speziell deutsche Israel-Kritik an, die hinter Polemiken etwa gegen Tel Avivs Militärgebaren ihren Antisemitismus versteckt und parallel dazu den palästinensischen Terrorismus hofiert.

Sein Film »Der letzte der Ungerechten« von 2013 porträtiert Benjamin Murmelstein, Judenältester im Getto Theresienstadt: im Taktikhandel mit den Nazis ein Kompromisskünstler oder schon Kollaborateur? In Murmelstein, lange verschrien, verteidigt der Regisseur einen Heroismus des listigen Gegenspielers. Er attackiert Hannah Arendts These von der »Banalität des Bösen«. Der Verweis auf Eichmann als einen hohlen Mittelmäßigen, so Lanzmann, zertrümmere eben jenes Un(er)fassbare, also alles Metaphysische in dessen Bestimmung. Und übrigens könne auch das vermeintlich Gute, wie die Geschichte des Parteikommunismus zeigt, grausam und mörderisch sein, und auch dies sei nicht banal, sondern offenbare »das bestialische Gen unserer Vernunftfähigkeit«.

»Shoah«. Der Film gehört in jenes Gepäck, das fernsten Künftigen, und seien es Außerirdische, exemplarisch von uns erzählen kann. Die unmittelbaren Erzähler des 20. Jahrhunderts aber sterben aus. Nun auch Claude Lanzmann, mit 92 in Paris.

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